Die Sozialanthropologie ist auf vielfältige Weise an der Herstellung, der Erforschung und der Wiedergutmachung von historischem Unrecht beteiligt. Zum Einen war die Entstehung der Disziplin auf vielfältige Weise eingebettet in den europäischen Kolonialismus. Zum Anderen bot die institutionelle Selbstreflexion spätestens seit den 1970er Jahren Potentiale, um Prozesse der Restitution, Reparation und Transformation kritisch zu analysieren und zu unterstützen. Neben juristischen Massnahmen wurden seit dieser Zeit auch Ansätze einer transitional justice zentral, um Gerechtigkeit wieder herzustellen, wie etwa im Falle der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika. Jüngst hat in Europa ausgehend von der Zivilgesellschaft, der Kunst und der machtkritischen Wissenschaft die Frage wieder an Aufmerksamkeit gewonnen, wie das gewaltvolle Erbe des Kolonialismus bewältigt werden kann. Namentlich in Europa hat die Debatte um die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter seit 2019 eine dekoloniale Welle ausgelöst. Aber auch die Anerkennung und Kompensation historischer Gewalt in ehemaligen Kolonien durch europäische Staaten wie Deutschland oder den Niederlanden zeigt, wie historisches Unrecht neu verhandelt wird. Dabei spielen zunehmend auch ethnografische, künstlerische und aktivistische Ansätze als Elemente einer breiteren politischen, sozialen und moralischen Reparation beschädigter Beziehungen einbezogen.
Nachdem sich PAL 2022 und 2023 mit der Frage beschäftigt, wie alternative Archive und Erinnerungskulturen geschaffen und erforscht werden können, steht bei PAL 2024 und 2025 die Frage im Zentrum, wie aktuelle Prozesse der Reparation und der sozialen Transformation aussehen und wie diese öffentlich verhandelt werden können. Dazu entwickelt PAL mit Partner*innen und Akteur*innen öffentliche Formate, die aktuelle Fälle von Reparation und Transformation auf innovative Weise verhandeln. Folgende Fragen leiten die Arbeit an:
Kann staatliche Anerkennung von historischer Gewalt wieder Gerechtigkeit herstellen? Welche Rolle spielen dabei öffentliche Entschuldigung, ökonomische Kompensationen, erinnerungspolitische Prozesse oder institutionelle Transformationen in der Gegenwart? Wie lassen sich neue Geschichten und Räume schaffen, in denen Trauer, Schuld, Vergebung und Solidarität vielstimmig zueinander in Beziehung gesetzt werden? Wie lassen sich das historische Unrecht der Shoa, des Kolonialrassismus und des Migrationsregimes gemeinsam und multidirektional verhandeln?
geplante Anlässe
10. September, 19.00 Uhr, Dampfzentrale Bern: At Home in the Diaspora: How to Live with/in Conflict…tba
Der Konflikt in Israel/Palästina hat die Debatte über Antisemitismus, anti-muslimischen Rassismus und Kolonialismus auch in der Schweiz polarisiert.
Wer kann und soll über welche Aspekte dieses vielschichtigen Konflikts öffentlich sprechen? Wer ist in welcher Form in den physischen und diskursiven Konflikt involviert? Wer soll und kann um wen trauern? Welche Begriffe können und sollen verwendet werden – oder gerade nicht?
Wir alle haben viele Fragen und Unsicherheiten – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven. Gleichzeitig existieren kaum öffentliche Räume, in denen politische, gesellschaftliche und persönliche Ambivalenzen verhandelt werden. In einer Wohnzimmeratmosphäre teilen und reflektieren Expert*innen – die sowohl aufgrund ihrer Biografien und ihres Fachwissens mit/in dem Konflikt leben – ihre persönlichen Erfahrungen, ihre Analysen und ihre unterschiedliche(n) Geschichte(n).
An diesem Abend geht es nicht um hitzige politische Kontroversen oder darum, andere von reinen Wahrheiten oder bestimmten Erzählungen zu überzeugen. Die Veranstaltung erprobt einen offenen, empathischen und vielstimmigen Raum für alle, die solidarische Beziehungen gegen Gewalt, anti-muslimischen Rassismus und Antisemitismus in Israel/Palästina und in Europa entwickeln und mitgestalten wollen.
Mit:
Adina Rom, Ökonomin, ETH Zürich / Mitbegründerin Gemeinsam Einsam
Dania Murad, Politikwissenschaftlerin / Mitbegründerin Alliance for Palestine
Monique Eckmann, Prof. em. HES-SO, Genève / Sozialwissenschaftlerin mit Fokus auf Bildung gegen Rassismen und Antisemitismen
Nijmi Edres, Professorin für Islamwissenschaften, Departement für Sozialanthropologie und kulturwissenschaftliche Studien, Universität Bern
Stimmen von Expert*innen und Besucher*innen aus dem Publikum
Moderation: Rohit Jain, Kurator Public Anthropology Lab
Awareness Team: Verein Aktiv Sein und Bleiben & Taktvoll
Freier Eintritt / Auf Englisch
Eine Kollaboration zwischen Public Anthropology LAB und Dampfzentrale Bern
22. Oktober, 18.00 Uhr, Museum for Contemporary Circumpolar Art: From Trauma to Transformation...tba
Seit Jahrzehnten kämpfen indigene Gemeinschaften in Kanada für politische Anerkennung und Reparation für die Geschichte von Landraub, Entrechtung, kulturellem Völkermord und struktureller Diskriminierung. Welche Strategien haben sie dabei angewandt? Welche Rolle spielt die Schweiz bei der Gewalt gegen First Nations? (Wie) Lassen sich die Erfahrungen und Strategien der First Nations aus Kanada mit der Aufarbeitung der Zwangsassimilation von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz in Verbindung bringen? Wie können transnationale Beziehungen geknüpft werden, die Formen der Kollaboration und Solidarität ermöglichen?
Ein experimenteller, multimodaler Raum, um transnationale Prozesse der Erinnerung, Reparation und Heilung zu erkunden.
Mit
Mike Metatawabin, Poet und Deputy Grand Chief Nishnawbe Aski Nation
Ursula Waser, Zeitzeugin "Kinder der Landstrasse", Stiftung Naschet-Jenische
Mo Diener, Performancekünstlerin, Forscherin und Aktivistin für die Rechte der Roma, Zürich
Manuel Menrath, Historiker und Kurator, PH Luzern
Und der vielstimmigen Community vor Ort
Moderation:
Rohit Jain und Jana Lamatsch, Department für Sozialanthropologie und Kulturwissenschaften
Eine Zusammenarbeit zwischen dem Public Anthropology Lab, dem Museum for Contemporary Circumpolar Art, Arctic Voices und dem Verein baM.
3. Dezember, 19.00 Uhr, Dampfzentrale Bern: At Home in the Diaspora: Welcher Art die Wärme ist…tba
Im preisgekrönten Hörspiel „Welcher Art die Wärme ist“ schreiben drei Autor*innen über Erinnerungen ihre Kindheit unter den Regime des Saisonnierstatut. Wie können Forschung, Kunst und Aktivismus kombiniert werden, um eine verdrängte Geschichte von Gewalt, Illegalisierung, Widerstand und Liebe zu erinnern? Eine Listening-Session, die den Raum öffnet, um ein nicht vergangenes Unrecht öffentlich zu verhandeln.
Mit
Carmine Andreotti, Historiker und Autor
Paola De Martin, Historikerin ETH Zürich / Präsidentin Verein TESORO
Melinda Nadj-Abonji, Schriftstellerin / Vize-Präsidentin Verein TESORO
Erik Altorfer, Regisseur und Dramaturg
Martin Schütz, Komponist, musicfromthe12floor.com
Die Reihe „Zuhause in der Diaspora“ ist eine Kollaboration zwischen Public Anthropology LAB und Dampfzentrale Bern.