Koexistenz und Konflikte zwischen verschiedenen Formen des In-der-Welt-Seins im paraguayischen Chaco
Ursula Regehr
Die Koexistenz indigener Völker und der Siedlergesellschaft im paraguayischen Chaco konstituierte sich in multiplen Prozessen der Kolonisierung, der Nationalstaatenbildung und der kapitalistischen Expansion. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts besassen die Lokalgruppen indigener Völker politische Autonomie, bewohnten extensive Territorien und basierten auf Ökonomien des Jagens und Sammelns. Seit dem Chaco-Krieg (1932-35) wurden sie gewaltsam enteignet und vertrieben, zur Lohnarbeit und Arbeitsmigration gezwungen, zum Christentum konvertiert und sesshaft gemacht.
Die Persistenz von Ungleichheit, Marginalisierung und Diskriminierung der indigenen Bevölkerung im Chaco wird in der Dissertation als Effekt dieser Prozesse untersucht. Ausgangspunkte zur Erkundung und Analyse der Problematik stellen diverse Medien dar, die Wahrnehmungen, Beziehungen sowie ontologische Positionen und Konflikte innerhalb des eigenen Kollektivs und gegenüber anderen Existierenden materialisieren und verknüpfen: ein Mythos über die Begegnung verschiedener Existenzweisen; die Geschichte und Entstehung der Siedlung Cayin ô Clim („Weisser Kolibri“); eine Genealogie der kolonialen und legalen Kategorie des „Indianers“; die Wirkung von Reziprozität in einem asymmetrischen Feld; sowie die Kontinuität und Rekonfiguration lokaler (animistischer) Figurationsweisen.
Diese Gegenstände können den Thesen der «ontologischen Figuration» von Philippe Descola (2010, [2005]2011) und der «Artefakte als Resonatoren» von Pierre Lemonnier (2012) entsprechend als Materialisierungen und Fragmente indigener oder subalterner Identifikationsweisen analysiert und interpretiert werden. Darüber hinaus bringen die dokumentierten Medien aus dem Chaco zugleich Prozesse tiefer sozialer und ontologischer Transformationen zum Ausdruck. Sie artikulieren in performativer Weise, wie sich verschiedene Existenzweisen begegnen und wechselseitig verschränken, sich jedoch auch voneinander abgrenzen und miteinander in Widerspruch und Konflikt geraten und wie sich kollektive Logiken des Denkens und der Praxis in der Koexistenz rekonfigurieren. Die Analyse dieser Medien und Artefakte macht Kräfte und Dynamiken sichtbar, die zur kontinuierlichen Aktualisierung der verschiedenen Formen des In-der-Welt-Seins und ihrer asymmetrischen Verbindung im Chaco beitragen.
Die Datengrundlage der Dissertation bilden Gespräche und Informationen, die während einer einjährigen Feldforschung (2004/2005 und kürzeren Aufenthalten 2006, 2008) geführt und gesammelt wurden, sowie im Rahmen der Organisation von Ausstellungsprojekten («Cayin ô Clim Lhavos/ Nosotros, Gente de Cayin ô Clim», 2004 und «simetría/ asimetría: imaginación y arte en el Chaco», 2011) erarbeitetes Material.