Fachbereich für Sozialanthropologie

Prof. Dr. Haller, Tobias

SNF-Projekt: Convivial Constitutionality

Carltoon
Karl Herweg

Human-Predator Interrelations in Complex Social-Ecological Systems

Das Projekt Convivial Constitutionality versucht einen Beitrag in der neuen Debatte zu alternativen Ansätzen des Naturschutzes zu leisten. Anregung dazu lieferte eine Forschung der Universität Wageningen mit dem Titel Towards Convivial Conservation: Governing Human-Wildlife Relations in the Anthropocene (CON-VIVA), welche den Mensch-Tier Dualismus in gängigen Umweltschutz-Strategien zu überwinden versucht (z.B. durch die Integration von Prädatoren für die Gesundung von Ökosystemen). Diese Strategie kann jedoch zu Konflikten zwischen lokalen Bevölkerungsgruppen und den Raubtieren führen. Im Projekt Convivial Constitutionality soll nun diese Lücke erforscht werden. Es geht um die Frage, wie am Beispiel von drei bekannten und geschützten Raubtieren aus drei Kontinenten (Wolf in Rumänien, Europa; Löwe in Kenia, Afrika; Jaguar in Ecuador, Latein Amerika) die Beziehung mit den lokalen Menschen aufgezeigt werden kann. Mittels Ansätzen und Methoden der Sozialanthropologie wird in drei vergleichend angelegten Doktorarbeiten erforscht, wie das Zusammenleben mit diesen Prädatoren in der Vergangenheit durch die lokalen Bevölkerungsgruppen institutionell geregelt und in religiöse Sichtweisen eingebunden war. Diese Lokalgruppen haben eine lange Erfahrung, ein grosses Wissen sowie offenbar erfolgreiche Institutionen im Umgang mit diesen Tieren entwickelt, die nun mittels sozialanthropologischen Methoden erforscht werden sollen. Da jedoch in diesen drei Gebieten aufgrund von Kolonialisierung, Landraubprozessen und Trophäenjagd das Überleben dieser Prädatoren beeinträchtigt ist, stellt sich die Frage, wie sich diese lokalen Gruppen die Entwicklung neuer Regelwerke für das Zusammenleben von Mensch und Prädator vorstellen könnten. In diesem zweiten Bereich wird mit experimentellen Mitteln partizipativ erarbeitet, wie sich diese Lokalgruppen die Bildung von neuen Institutionen aus ihrer Perspektive vorstellen würden, der alle Akteure in einem partizipativen Akt der Regelwerksbildung einbezieht (Constitutionality-Ansatz). 

Projektleitung: Prof. Dr. Tobias Haller

Projektmitarbeitende: Lisa Alvarado, Ariane Zangger, Samuel Weissman

Laufzeit: 01.01.2021 - 31.12.2024

Finanzierung: Schweizerischer Nationalfonds

Der Jaguar (panthera onca) ist in Südamerika und speziell in Ecuador stark vom Aussterben bedroht (Boron et al. 2018). Es gibt zwar Anstrengungen zum Schutz des Jaguars auf verschiedenen Ebenen, aber es fehlen sowohl das Wissen darüber, wie viele Tiere es noch gibt, wie gross ihre Territorien sind und wie sie sich durch die fragmentierten Landschaften bewegen (Olsoy et al. 2016, Boron et al. 2019). Ebenso fehlt Wissen darüber, wie die lokale Bevölkerung mit den Tieren umgeht. Religion kann dabei eine Rolle spielen. Speziell Schamanismus scheint die Grenzen zwischen Mensch und Jaguar zu verwischen, ein Punkt, der in dieser Forschung genauer beleuchtet werden soll. Forschung in anderen Ländern hat gezeigt, dass Jaguare normalerweise grosse Territorien durchwandern und dabei oft von den Menschen unbeobachtet bleiben (Olsoy et al. 2016). Konflikte können entstehen, wenn die Jaguare auf ihren Wanderungen das Vieh der Menschen angreifen.

Trotz dieses Konflikts haben Menschen und Jaguare in Ecuador seit Jahrhunderten ko-existiert und genau dies soll in dieser Arbeit dokumentiert und analysiert werden. Zunächst soll eine detaillierte Analyse der Institutionen, die die Beziehungen zwischen Menschen, vor allem indigenen, und Jaguaren im Laufe der Zeit geregelt haben, den historischen Kontext beleuchten, der in einem zweiten Schritt den Hintergrund für die Untersuchung der heutigen Verhandlung zwischen verschiedenen Ontologien, darunter die von Umweltschützern, Indigenen und anderen, liefern wird. Wir erwarten, dass wir verschiedene Perspektiven und Erklärungen finden werden, die für oder gegen ein Zusammenleben mit dem Jaguar sprechen. Schließlich könnten Diskussionen über Initiativen auf lokaler Ebene, mit Jaguaren zusammenzuleben, Beispiele liefern, denen man an anderen Orten folgen kann.

Die Forschung wird von Lisa Alvarado durchgeführt. 

Jaguar
Photo by Prashant Saini
Ecuador mit Regenwald
Shaman in the forest - Photo by Lisa Alvarado

Die Karpaten, bekannt für ihre reiche Biodiversität und Grossraubtier-Population (Wolf, Bär, Luchs), befinden sich beinahe zur Hälfte ihrer gesamten Fläche in Rumänien (Anuarul statistic al romaniei 2017: 3). Dabei beherbergen die Karpaten rund 30% der europäischen Wolfspopulation (Canis lupus) (Young et al. 2007: 547), der rumänische Teil wird sogar als einziges Gebiet in Europa ausserhalb Russlands bewertet, in dem eine gesunde Population aller drei Grossraubtierspezies leben (Promberger und Mertens 2001: 173). Es verwundert deshalb nicht, dass man in Rumänien bis heute lebendige, traditionell-pastorale Lebensweisen vorfindet, in denen Grossraubtiere stets präsent waren und sie massgeblich beeinflussten, zumal beinah ein Drittel der Bevölkerung im landwirtschaftlichen Sektor arbeitet (CIA.gov 2019, Fox 2011). Gemeinsam mit ihren Schaf-, Ziegen- oder Kuhherden ziehen die rumänischen Hirten mit den Jahreszeiten über die Weiden, begleitet von Herdenschutzhunden und verbringen ihr Leben damit tags wie nachts in unmittelbarer Nähe ihrer Tiere. 

Wir nehmen deshalb an, dass sich die Narrative, Ideologien, Schutzstrategien und politischen Denkweisen der rumänischen Landwirt_innen von jenen in der Schweiz massgeblich unterscheiden und der Umgang mit Nutztieren und Grossraubtieren auf spezifischen, lokal etablierten Wissenssystemen und Erfahrungswerten basiert. Diese historisch gewachsenen Wissenssysteme, Erfahrungswerte und lokalen, wie nationalen Institutionen unterliegen jedoch einem ständigen Wandel, bedingt durch Veränderungen auf politischer (Sozialismus/Postsozialismus), ökonomischer und gesellschaftlicher Ebene, den es zu untersuchen gilt. Denn Ziel dieser Forschung soll sein, Einsichten in vergleichbare Lebensumstände einzubringen, die dann in Bereichen anderer kultureller Kontexte zur Diskussion gestellt werden können. 

Die Forschung wird von Ariane Zangger durchgeführt. 

Romanian Shepherd
Romanian shepherd in the Carpathians with his sheep, cattle dog and herd protection dogs - Photo by G. Musina 2020

Als 2015 ein ganzes Löwenrudel (Panthera Leo) in Kenia vergiftet wurde, machte die Geschichte weltweit Schlagzeilen. Was im bekannten Maasai Mara Nationalpark stattfand, war bei weitem kein Einzelfall, denn Konflikte zwischen Löwen, anderen Wildtieren und Menschen sind frequent (siehe Gadd 2005; Hazzah et al. 2014). Unsere Forschung fokussiert deshalb auf eben jene Bereiche, wo solche Konflikte in dieser Frequenz unmittelbar auftreten, an der Schnittstelle in der Agro-Pastoralisten im täglichen Leben mit Prädation umgehen müssen. Dabei argumentieren Goldman, Roque de Pinho, and Perry (2013) auf Basis ethnographischer Daten aus Kenia und Tanzania, dass Projekte zur Mitigation von Mensch-Raubtier Konflikten betreffend Löwen, oft von Naturschutzexperten vereinfacht und die Probleme dabei entweder der Kategorie «Kultur» oder «Vergeltung» zugeschrieben würden. Die Autoren kritisieren die zurzeit angewendeten Methoden zur Verbesserung der Beziehungen zwischen der Lokalbevölkerung und Löwen, seien sie noch so progressiv. Hierbei konzentrieren sich die Forscher auf die Masai, da deren Weidegebiete und damit deren Allmende seit Kolonialzeit massiv an Landraub und Green-grabbing Prozessen leiden, was dazu führt, dass die heutigen Weidegebiete angrenzend an Naturschutzgebiete oder damit überlappend sind.

Unsere Forschung soll es deshalb zum Ziel haben, Probleme zu adressieren, in denen lokale Institutionen an von unten aufgebaute Regelwerke angepasst sind oder sich an solche anpassen können, da diese womöglich am besten an lokale Wissenssysteme gekoppelt sind und dadurch eine historisch gut fundierte Praxis im Umgang mit ihrer Umwelt, respektive «Mitwelt» aufweisen. Denn die Masai sehen Löwen in erster Linie nicht als Problem-Tiere, sondern als Teil ihrer Umwelt, wobei sie das Jagen als Schutzmassnahme ihrer Herde betrachten (Goldman, Roque de Pinho, and Perry 2013). Ohne Gesetze jedoch, die legales Jagen erlauben, wird das Problem besonders wichtig in Kontexten, in denen es um green- und commons-grabbing geht.

Die Forschung wird von Samuel Weissman durchgeführt. 

Lion in the grass
One of the LWC’s lionesses wearing a collar for monitoring - Photo by S. Weissman 2016
 Publikationen
Constitutionality: Conditions for Crafting Local Ownership of Institution-Building Processes

Die Publikation findet sich hier

The Constitutionality Approach: Conditions, Opportunities, and Challenges for Bottom-Up Institution Building

Die Publikation findet sich hier.

Human Ecology: Special Issue

Die Publikation findet sich hier.

Science Part: Convivial Constitutionality

Convivial Constitutionality_Proposal SNF.pdf (PDF, 242KB)